Entweder ist Entwicklung und damit verbunden auch Geschichte Ausdruck des Willens einer überständigen Macht, der sich in den Handlungen der Menschen widerspiegelt und einem Ziel entgegenstrebt (Jüngster Tag) oder Folge kosmischer Bildungsprozesse und damit verbunden einer Selbstorganisation des Lebens, bei der es, ausgelöst durch eine vermutlich urknallartige Explosion einer nahezu unendlich dicht zusammengepressten kleinen und heißen Energiequelle, zu einer räumlichen Ausdehnung kam, in dessen Folge sich die ausgestrahlte Energie allmählich abkühlen konnte, was zu einer Information, d.h. etwas wird informiert, in Form gebracht, oder anders ausgedrückt Gestaltenbildung (Sternenentstehung) führte. Ein solcher Energieumwendungsprozess, auch Entropie genannt, scheint eine der Grundvoraussetzungen, wenn nicht gar die Voraussetzung überhaupt, für das Entstehung von etwas, also auch von Leben und dessen Fortgang zu sein (1). Bei der daraus resultierenden Frage nach der materiellen Beschaffenheit oder Nichtbeschaffenheit einer unendlich kleinen und dichten „Primärenergiequelle“ scheint sich der Kreis des zweieinhalbtausendjährigen Ringens der Philosophen um den Vorrang von Materie und Idee oder Sein und Geist zu schließen.
Elementarteilchen (unendlich kleine, gewissermaßen masselose Teilchen) haben schon eher den Charakter von Ideen als von etwas Substantiellen. Sie zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie nicht dinghaft sind. Sie sind nicht einfach nur die Elementarsubstanz der Materie, sondern sie sind überhaupt etwas anderes als Substanz. Allein die „unvorstellbare Vorstellung“ des Elektrons als „Materiewelle“ berührt eine metaphysische Dimension, in der es Form im vertrauten Sinn nicht mehr gibt.
Diese „Materiewellen“ sind mehr als Form, sie sind Meta-Form, also eine, der wir keinen substantiellen Inhalt zuordnen können – sondern nur einen geistigen. Es fehlt nämlich einfach das Etwas, das sich in Wellen bewegt, so wie das etwa bei der Wasserwelle der Fall ist. Man kann höchstens noch sagen, dass es sich um Wellen der Wahrscheinlichkeit handelt, aber wirklicher wird die Sache dadurch auch nicht. So fand in der modernen Physik, der Quantenmechanik, so etwas wie eine Rückgewinnung des Geistigen in den physikalischen Erscheinungen statt, nachdem für Materialisten lange Zeit die Hoffnung bestanden hatte, es würde sich alles, auch das Geistige, auf pure Mechanik zwischen Materie zurückführen lassen. In der modernen Physik aber haben die mechanistischen Bilder endgültig versagt.
Rein materialistisch ist die Materie im Bereich des ganz Kleinen nicht mehr zu erklären. Auch die Materie ist von etwas geistigem geordnet, und dieses lässt sich exakt mathematisch beschreiben. (2) (...) „Das Leben der Götter ist Mathematik“ hat schon Novalis gemeint. So wäre die Natur in ihrem tiefsten Wesen rein geistiger Bestimmung. „Die Natur“, so schreibt Carl F. v. Weizsäcker, „ist nicht subjektiv geistig; sie denkt nicht mathematisch, aber sie ist objektiv geistig; sie kann mathematisch gedacht werden. Das ist vielleicht das Tiefste, was wir über sie wissen.“ Die mathematischen Zeichen sind die Runen jener Weltsprache, in denen das Buch der Natur abgefasst ist. (3)
Wissen oder das, was Wissen sein müsste, kann man im Englischen gut mit awarness (Wahrnehmung) bezeichnen. Danach wäre der Satz, „Wissen ist Wahrnehmung“, englisch, „knowledge, is awarness“ eine sinnvolle Folgerung. Daraus leitet sich die Frage ab, ob es eine unfehlbare Wahrnehmung gibt, die nicht sinnliche Wahrnehmung ist. Hierin bestand das große Paradigma (Denkmuster) für die griechische Philosophie in der deduktiven (absteigenden) Mathematik. Hat man einen mathematischen Beweis erst einmal verstanden, dann ist man so unfähig an ihm zu zweifeln, wie wenn man sinnlich eine Farbe oder eine Gestalt gesehen hat. Aber worin bestand die Wahrnehmung im mathematischen Fall? Ein moderner Mathematiker könnte sagen, man habe eine Struktur verstanden.
Struktur heißt auf griechisch eidos und wurde in der platonischen Terminologie mit idea gleichgesetzt. Idea heißt in der englischen Literatursprache Form. Der neuzeitliche und wieder vorwiegend englische subjektive Sprachgebrauch von Idee (idea) für Gedanke oder Bewusstseinsinhalt ist von Platons objektiven Sinn des Wortes erst auf dem langen Weg über die christliche Philosophie abgeleitet. In dieser Philosophie werden die platonischen Strukturen als Gottes Schöpfungsgedanken gedeutet; und der Mensch, nach Gottes Bilde geschaffen, versteht die Welt, indem er Gottes Gedanken nachdenkt; so wird der Name der ewigen Struktur Platons am Ende zum Namen des subjektiven Gedankens der Neuzeit. So wird das Wirklichste zum Unwirklichsten, Flüchtigsten: „Die Suppe braucht noch eine Idee Salz.“ (4)
Die griechische Philosophie beschreibt unser Verständnis von Strukturen als eine noetische Wahrnehmung, eine Wahrnehmung durch den nus, die vernünftige Seele, im Unterschied zur empirischen Wahrnehmung durch die Sinne. Unsere Wahrnehmung der empirischen Dinge hängt von unserer noetischen Fähigkeit der Strukturwahrnehmung (Konrad Lorenz sagt: Fähigkeit der Gestaltwahrnehmung ab. „Wein schmeckt süß“ hat nur einen Sinn, wenn wir das gemeinsame Element in allen Beispielen von Wein erfasst haben, und ebenso für Schmecken und Süß. Bei optischem und akustischem Wiedererkennen ist dies noch deutlicher.
Aristoteles ist empirischer als Platon und gewiss empirischer als Galilei, Kepler und Newton. Aber auch seine Theorie der Induktion ist nur auf der Basis der Eidos Theorie sinnvoll. Er lehrt, dass bei der Induktion ein Beispiel genügen kann, um das allgemeine Gesetz zu erkennen. Denn einerseits drückt das Gesetz die Konsequenzen der Struktur aus, die in dem Beispiel gegenwärtig ist; und wir mussten die Struktur in ihm wahrnehmen, um das Beispiel überhaupt als Beispiel dieser Struktur anzusprechen: dieses Glas Wein als Wein, dieses gezeichnete Dreieck als Dreieck. Und andererseits folgt, was aus einem Beispiel nicht logisch folgt, ebenso wenig aus einer Million von Beispielen. (Ironisiert von Ludwig Wittgenstein: “Wenn ich eine Nachricht in der heutigen Morgenzeitung nicht glauben kann, kaufe ich hundert Exemplare der Zeitung; dann glaube ich.“ (5)
Die Frage der Strukturerkennung und Wahrnehmung berührt aber nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine religiöse Ebene. Es gibt hochinteressante Theorien, Materie- und Wechselwirkungsteilchen nicht als getrennte Welten, sondern als Ausprägungen ein und desselben Urteilchens (Urteilen bedeutet das Fortschreiten eines Gedankens zu seinem Wahrheitswert) zu verstehen. Diese „Supersymmetrie“ würde allerdings zu jedem heute bekannten Teilchen einen noch unbekannten Partner verlangen. Vielleicht stehen wir heute überhaupt an einer Schwelle, wo sich unser Weltbild erneut ändert. Wir denken ja letztlich noch immer im Sinne von Demokrit an Teilchen als Materiebröckchen. Dabei spielt bei den neuen Theorien die Symmetrie eine viel wichtigere Rolle.
Quarks kann man gar nicht mehr als Teilchen im Demokritschen Sinn verstehen, weil sie nicht mehr isoliert zu betrachten sind. Ihre Bindungsenergien sind höher als ihre Masseenergien. Das bedeutet: Wenn sie zwei Quarks trennen, erzeugen sie durch die aufgebrachte Energie ständig neue Paare von Quarks und Antiquarks, ohne die ursprünglichen Quarks wirklich trennen zu können. Die Dominanz der Symmetrie bringt uns wieder stärker in die Nähe des Platonschen Denkens, bei dem Ideen im Mittelpunkt stehen. Jedenfalls steht die religiöse Idee eines allgemeinen Geistes oder Logos keineswegs im Widerspruch zur modernen Physik, im Gegenteil: Sie bildet eine ziemlich einleuchtende Schlussfolgerung aus dem gegenwärtigen Stand der Elementarteilchenphysik. In der Welt des ganz Kleinen verflüchtigt sich die Materie ins Geistige und Ideelle. (6)
Wäre nicht ein Glaube denkbar, in dem es gar nicht mehr darum geht, an etwas Bestimmtes zu glauben? Dieser Glaube wäre vielleicht nichts anderes als die Fähigkeit, gegenüber der Natur unentwegt zu staunen. Eine Fähigkeit, die uns mehr und mehr verloren geht – weil Natur verloren geht, nicht zuletzt unsere eigene. Religiosität wäre das Staunen über das Wunderbare, über das „Genie“ der Natur, über die Ordnung des Ganzen. Religiosität wäre nichts anderes als eine wirkliche und wahrhaftige Welt-Anschauung, ein wirkliches Anschauen und Bestaunen der Welt, einschließlich ihrer schrecklichen Seiten, denen es immer wieder neu zu widerstehen gilt. Glaube als „intuitio“ im ursprünglichen Sinn: als unmittelbare Anschauung, als genaues Betrachten der Dinge, Zustände und Zusammenhänge. Es wäre damit ein Glaube, der auch Atheisten möglich wäre.
Vielleicht sähe der Mensch dann Dinge hinter den Dingen, die mächtiger sind, als es die „göttliche“ Personifikation je sein konnte. Einen Namen wird es dafür freilich niemals geben. So könnte die Naturwissenschaft in der Tat eine Geburtshelferin sein für eine neue Religiosität in einem neuen Zeitalter. Es wäre dies eine Religiosität ohne Katechismus, eine Spiritualität ohne Spiritismus. Es wäre eine Religiosität ohne Ideologie, ohne Lehrer und Priester, ohne Gemeinden, Vereine, ohne Mitgliedschaft, ohne Kultzauber und Zauberkult, kurz: Es wäre eine ziemlich bescheidene, stille Religiosität, äußerst asketisch, was Form und Inhalt betrifft. „Das Allermächtigste in der Welt ist das, was nicht sichtbar, nicht hörbar, nicht fühlbar ist“, heißt es bei Lao-tse. Unsere Erkenntnisse der physikalischen Welt fordern immer nachdrücklicher diese metaphysische Askese.
Auf den theistischen Gott kann der Mensch sehr gut verzichten, denn er ist sowieso nur eine Konstruktion des Menschen – eine ziemlich schreckliche eigentlich. Denn dieser „Gott“ als übersinnliches Subjekt macht mich zum reinen Objekt. „er beraubt mich meiner Subjektivität“, so meint der evangelische Theologe Paul Tillich, „ weil er allmächtig und allwissend ist. (...) Er ist der Gott, von dem Nietzsche den Mörder Gottes sagen lässt, dass er getötet werden musste, weil niemand ertragen kann, zu einem bloßen Objekt absoluten Wissens und absoluter Beherrschung gemacht zu werden. Hier liegt die tiefste Wurzel des Atheismus. Es ist ein Atheismus der gerechtfertigt ist als Reaktion gegen den theologischen Theismus und dessen erdrückenden Konsequenzen. (7)
Der Tod ist der schreckliche Sinn des Lebens. Daraus folgt aber mit zwingender Notwendigkeit, dass das Leben selbst, jedes einmalige individuelle Leben, die einmalige Verkörperung dieses einen paradoxen Sinns ist. Das Leben selbst ist der Sinn des Lebens. Dies nicht begreifen und akzeptieren zu können, zwingt den Menschen dazu, den Sinn vom Leben weg auf ein Jenseits zu verlagern. Das Jenseits ist eine Konstruktion des Menschen, die seiner existentiellen Verzweiflung entspringt.
Aber auch das sind nur Worte, flüchtige Phrasen, sinnlose Sinnbeschwörungen. Die Frage ist doch wie werden sie wirksam im Leben? Lebt man nicht ständig am eigenen Denken vorbei? Einen Haufen Bücher über Physik, Anatomie, Astronomie und Philosophie und Religion gelesen – aber wo sind die Wirkungsstränge, die wirklich mitten ins Leben hineinführen und diesem auch einen Halt verleihen! Man kommt doch nur wieder auf die alten, so schrecklich abgenutzten und hohl klingenden Begriffe: Glaube, Liebe, Humor. Auch die sind leicht hingeschrieben, doch schwer gelebt. Und mit ihnen sind sofort die großen Fragezeichen da. Stimmt es wirklich, dass der Liebe nichts gewachsen ist, nicht mal der Kosmos in seiner machtvollen Größe, dass in ihrer Glut selbst die Fixsterne verdampfen?
Und der Glaube soll Berge versetzen? Was sind schon Berge! Und der Humor? Lässt sich mit ihm wirklich das Gewicht der Welt ertragen? Nein für sich allein genommen ist jeder dieser Geistesriesen kraftlos und bedarf selber des Halts. Martin Buber hat gemeint, dass der Glaube allein zur Bigotterie führt, der Humor allein zum Zynismus. Doch Glaube und Humor vereint, das ergäbe eine Mischung, mit der das Leben zu meistern sei. Von der Liebe spricht er nicht, vielleicht, weil seiner Meinung nach die Liebe aus der Verbindung von Glauben und Humor ganz von selbst hervorgeht. Das kann schon sein. Jedenfalls: Die Liebe allein führt zur Besessenheit.
Die tiefe Krise des christlichen Glaubens mag am Ende auch damit zu tun haben, dass der Humor in ihm keinen Platz hatte und mit Liebe niemals der Eros gemeint war. Die Krise der modernen Naturwissenschaft mag am Ende auch damit zu tun haben, dass bis heute der Humor nicht als Universalkonstante der Natur erkannt worden ist. Es wird allzu besessen und damit humorlos geforscht. Es wird in dem verblendeten Glauben geforscht, dass sich irgendwann die Existenz in eine Formel wird pressen lassen. Es gibt allerdings Grund zu der Annahme, dass sich in der Natur ein humoristisches Wirkungsquantum verbirgt, welches sich jeder mathematischen Bestimmung verschließt. Es ist Garant dafür, dass hinter jedem Geheimnis, das der Mensch für das letzte hält, schon ein weiteres „letztes“ Geheimnis auftaucht, jedes Mal begleitet von einem liebenswerten, durchaus nicht höhnischen Gelächter. Dieses ist freilich nur von Menschen zu hören, die mit echten Geistesohren gesegnet sind.
Ein jüdisches Sprichwort sagt: „ Der Mensch denkt und Gott lacht.“ (8)
Anmerkungen
(1) vgl.: Ernst Peter Fischer, Sowohl als auch, Denkerfahrungen der Naturwissenschaften, Hamburg 1987, S. 20/21
(2) Gerhard Staguhn, Das Lachen Gottes, Carl Hauser Verlag München Wien 1990, S. 291
(3) Ebenda, S. 273
(4) Carl Friedrich v. Weizsäcker, Zeit und Wissen, Carl Hauser Verlag München 1992, S. 68/69
(5) Ebenda, S. 69
(6) Gerhard Staguhn, Das Lachen Gottes, S. 292
(7) ebenda, S. 297/298
(8) Ebenda, S. 302/303
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