Die materielle Seite des Soziallebens, insbesondere ihre wirtschaftliche Seite gilt der Herstellung und dem Verbrauch. Marx bezeichnete sie als eine Erweiterung des menschlichen Stoffwechsels, das heißt des Austausches von Materie zwischen der Natur und dem Menschen. Dieser Austausch scheint von grundlegender Bedeutung für das Entstehen und die Entwicklung des Menschen überhaupt. Seine Notwendigkeit begrenzt die Freiheit des Menschen. Größere Freiheit kann demnach nur durch rationelleres Regeln dieses Stoffwechsels mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den der menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen erreicht werden. Wirkliche Freiheit beginnt demnach erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und durch äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört. Deshalb schafft nur die Verkürzung der zur eigenen und zur Existenzsicherung der Gesellschaft notwendigen Arbeitszeit die Grundvoraussetzung für mehr Freiheit. So lauten einige der Grundaussagen der Marxschen Sozialtheorie. (1)
Daraus ergibt sich die Frage, ob gesunde und arbeitsfähige Menschen ohne eigene Beiträge zur eigenen und zur Existenzsicherung der Gesellschaft Anspruch auf ein bedingungsloses und damit druckfreies auskömmliches Grundeinkommen haben können oder ob sie solche Ansprüche durch auf ein erträgliches Zeitmaß begrenzte notwendige Arbeit erst erwerben müssen? Dabei kann Arbeitszeitverkürzung heißen, die tägliche Arbeitszeit zu senken, es kann aber auch bedeuten, die jährliche oder die Lebensarbeitszeit herabzusetzen. Unter den Bedingungen höchst möglich kapitalverwertbarer Lohnarbeit bedeutet Arbeitszeitverkürzung auf jeden Fall ein bisschen weniger Entfremdung und Ausbeutung. Obwohl nicht wenige Linke aus gutem Grund jegliche Ausbeutung ablehnen, bleibt die oben gestellte Frage aus grundsätzlichen Erwägungen offen.
Kann man beispielsweise jungen gesunden Menschen zumuten, zehn Jahre oder mehr oder weniger ihres Arbeitslebens auch unter Ausbeutungsbedingungen einer Vollzeitarbeit nachzugehen, bevor sie einen Anspruch auf ein bedingungsloses druckfreies und auskömmliches Grundeinkommen erwerben? Wobei Lehrzeiten und Studienzeiten je nach Leistungen und Abschluss stufenweise, Zivildienstzeiten, Kindererziehungszeiten, Hausarbeitszeiten in größeren Familien je nach Dauer angerechnet werden sollten.
Kann man gesunden arbeitsfähigen Zuwanderern eine ähnlich wie oben konditionierte Vollzeitarbeitsfrist für den Erwerb eines solchen Anspruchs zumuten, vorausgesetzt, sie erhielten vom ersten Tag an das uneingeschränkte Arbeitsrecht?
Müssten nach Einführung eines BGE oder wie immer man das, Hauptsache korrekt, benennt, alle Institutionen verschwinden, die sich wie bisher um Menschen kümmern, die nicht alleine klarkommen oder könnte man dafür nicht viel mehr Anlaufstellen schaffen, die wirksamer und wirkungsvoller als bisher Hilfe vor allem zur Selbsthilfe leisten?
Verlören Gewerkschaften wirklich ihre Berechtigung als Organisationen zur auskömmlichen Lohnfindung, zur Sicherung und Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in den Unternehmen und Einrichtungen sowie, wenn nötig, zur Führung von Arbeitskämpfen?
Stiegen die bei einer drastischen Verbrauchssteuererhöhung zur Finanzierung eines solchen Systems sich neu bildenden Preise wirklich ins unermessliche, wenn man bedenkt, dass auch jetzt schon alle sonstigen Sozialabgaben irgendwie in den Preisen drin stecken?
Können die zeitlich auf höchstens zwei Jahre befristeten Modellversuche für ein BGE in den USA in den 1970er Jahren, die zu einem Nachlassen der Arbeitswilligkeit führten, gerade wegen ihrer zeitlichen Befristung als ernstzunehmende Gegenargumente gelten? (2)
Selbstverständlich bleiben Forderungen nach drastischen Arbeitszeitverkürzungen im gegenwärtig vorherrschenden Wirtschaftssystem wegen des einander bedingenden und gleichsam unlösbaren Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit schwer bis gar nicht durchsetzbar. Trotzdem schlössen hohe Arbeitsproduktivität und die Güte von Wissenschaft und Technik auf der Grundlage zunehmend vorrangiger Nutzung erneuerbarer Energieträger solche Entwicklungen in Zukunft nicht von vornherein aus, wenn es gelänge, viele Menschen dafür zu begeistern und sie für eine systematische und gesteuerte Veränderung der sozialen Verhältnisse zu mobilisieren.
Auch danach hören allerdings die oben angedeutete Notwendigkeit des erweiterten Stoffwechsels als Austausch von Materie zwischen Natur und Mensch und die damit verbundenen Widersprüchlichkeiten nicht auf. Es bleibt auch dann viel Arbeit und bei Nutzung erneuerbarer Energieträger möglicherweise mehr als jetzt zu tun. Deshalb kann es meines Erachtens auch in ferner Zukunft ein Grundrecht auf ein von Anfang an völlig arbeitsloses Einkommen schwerlich geben.
(1) Vgl.: Karl Marx, Das Kapital. Dritter Band, Berlin 1976, S 828
(2) Vgl.: Clemens Fuest, Andreas Peichl, Grundeinkommen vs. Kombilohn: Beschäftigungs- und Finanzierungswirkungen und Unterschiede im Empfängerkreis, In: IZA Standpunkte Nr. 11, Bonn 2009, vgl. auch: Allen, Jodie T. Designing Income Maintenance Systems: The Income Accounting Problem. 1973 und Jodie T. Allen: Negative Income Tax . In: David R. Henderson: Concise Encyclopedia of Economics . 2007 oder Gary Burtless & David Greenberg, " Measuring the impact of NIT experiments on work effort ." Industrial and Labor Relations Review , ILR Review, ILR School, Cornell University 1983, pages 592-605 |