Die Geschichte Preußens unterteilt sich grob in drei Phasen – eine koloniale Vorgeschichte, eine dynastische und eine eigentliche, etwas mehr als dreihundertjährige Geschichte. Die Vorgeschichte beginnt mit dem außerhalb der nordöstlichen Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts von Kreuzrittern unter Führung des Hochmeisters Hermann von Salza um das östlich der Weichselmündung gelegene Kulmer Land gegründeten Deutschen Ritterordensstaat. Dieser katholische Ordensstaat breitete sich im Nordwesten bis nach Pommern und im Nordosten über das gesamte Baltikum bis nach Neustadt (Nowgorod) aus. Nach der Niederlage der Kreuzritter in der Schlacht bei Grunwald oder Tannenberg gegen ein polnisch-litauisches Heer im Jahre 1410 verlor der Deutsche Ordensritterstaat in den nachfolgenden Konflikten und nach dem 2. Thorner Friedensschluss 1466 endgültig seine Selbstständigkeit und unterstellte sich der polnischen Krone.
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Die vom Hohenstaufer Kaiser Friedrich II. 1235 erlassene und auf 1226 rückdatierte Goldbulle von Rimini übereignet den ersten Hochmeister des Deutschen Ritterordens das Kulmer Land |
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Besiegter Pruße (Königsberger zeichnung von 1684). Die Ordensritter töteten in einem 40jährigem Kampf zwischen 20 bis 50 Prozent der Ureinwohner . |
Dass diese Gegend anderthalb Jahrhunderte später schrittweise Teil des Kurfürstentums Brandenburg wurde, hängt mit der Herkunft des letzten Hochmeisters des Deutschen Ordensstaates zusammen, der ihn während der Reformationszeit 1525 verweltlichte und in das vorerst noch unter polnischer Lehenshoheit stehende Herzogtum Preußen umwandelte. Es handelte sich um Albrecht von Brandenburg-Ansbach aus der fränkischen Linie der Hohenzollern. Erst knapp einhundert Jahre später geriet des Herzogtum Preußen durch Erbfall und vorherige Heirat in den kurfürstlich-brandenburgischen Einflussbereich. Der Umstand, wonach der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts herrschende Große Kurfürst Friedrich Wilhelm beinahe mit einer schwedischen Thronerbin verheiratet worden wäre, widerlegt eindeutig die Legende, nach der alle früheren Kurfürsten schon auf ein deutsches Reich unter preußischer Führung hingearbeitet hätten.
Auch bei den Hohenzollern handelte es sich um „durchschnittliche deutsche Territorialfürsten, nicht schlechter und nicht besser als viele später vergessene, und sie trieben dieselbe kleinlich-betriebsame Familienpolitik wie alle anderen: Heirats- und Erbschaftspolitik, bestrebt Anwartschaften zu erwerben und möglichst viel Ländereien in Familienbesitz zu bringen; im Übrigen finden wir sie in ewiger Opposition gegen die allmählich schwächer werdende kaiserliche Zentralgewalt und zugleich in ewigem Gerangel mit ihren eigenen Ständen – Adel, Klerus und Städten –, die der fürstlichen Zentralgewalt ebenso widerstrebten wie diese der kaiserlichen. Ein volles Jahrhundert dauerte es, bis die märkischen Hohenzollern ihren heimischen Raubritteradel – die Quitzows, Putlitz und Bredows – in den Griff bekamen und ein weiteres, bis ihre preußischen Anwartschaften Früchte zu tragen begannen“. (1)
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Kurfürst Johann Sigismund (* 8. 11.1572; † 23. 11. 1619) erließ nach dem Erwerb der reformierten Gebiete Jülich, Clewe und Berg die confessio sigismundi (Toleranzedikt) und führte durch eine kluge Heiratspolitik das Herzogtum Preußen mit dem Kurfürstentum Brandenburg zusammen. |
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Kurfürst Friedrich III. (* 11. 07. 1657; † 25. 02. 1713), der die Künste und Wissenschaften wie kein anderer vor ihm förderte, ließ sich am 18.01.1701 in der außerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gelegenen ostpreußischen Hauptstadt Königsberg zum König Friedrich I. in Preußen krönen. |
Ungeachtet dessen lenkten wenige Staaten in der Geschichte soviel Bewunderung, Ehrfurcht und Respekt, aber auch Ablehnung und Furcht auf sich wie Preußen. Für die Einen brachte es soziale Tugenden wie Arbeitsfreudigkeit, Tüchtigkeit, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Zähigkeit und innere Widerstandskraft zur Entfaltung, die es ohne die sittliche Grundhaltung, freiwillig einer großen Sache dienen zu wollen, und die Fähigkeit, verzichten zu können, sowie eine gewisse Verachtung des Wohllebens nicht hätte geben können; für andere bedeutete es Junker mit Reitstiefeln und Hundepeitschen, militärischer Drill gekoppelt mit Kadavergehorsam und Untertanengeist.
Der namhafte Publizist Sebastian Haffner bestritt sogar in Gänze die Daseinsberechtigung Preußens. Nach ihm hätte es Preußen gar nicht geben müssen. Anders als bei allen anderen europäischen Staaten könnte man es getrost wegdenken. Es bedurfte zeitlebens eines Übermaßes an Lebenswillen und militärischer Selbsterhaltungsenergie, um die Zufälligkeit, Willkürlichkeit und das nicht recht Überzeugende seines Entstehens einigermaßen auszugleichen.
Die Machtgewaltigen Preußens standen von Anfang an vor der Frage, wie sie sich ohne zusammenhängendes Territorium, also ohne natürliche Grenzen, ohne Volk und Sprache als politische Einheit begründen sollten. Wie einst die kriegerischen Ordensritter behandelten die Nachfahren die Staatsfrage zu allererst als ein Organisationsproblem, welches sie gleichsam modern wie originell zu lösen vermochten. Die herrschenden Fürsten übertrugen die Organisationsform schlagkräftiger militärischer Einheiten mit streng hierarchisch und autoritär nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam gegliederten Strukturen auf die staatliche Verwaltung.
Einer der führenden Persönlichkeiten der ersten Jahre der französischen Revolution Honoré Gabriele de Mirabeau soll deshalb Preußen im Unterschied zu anderen europäischen Staaten, die eine Armee unterhielten, als eine Armee bezeichnet haben, die über einen Staat verfügte. (2) Die Armee in Preußen herrschte demnach nicht als Staat im Staate, sie war der Staat. Die Armee diente auf nahezu allen Gebieten als Vorbild für die Organisierung von Verwaltung und Wirtschaft, selbst die Dynastie und sonstige Führungsschichten gingen in der Armee auf.
Diese sehr einseitige militärische Ausrichtung hinderte den für den Kurfürsten Friedrich III. dienenden und nach dessen Königskrönung in Ungnade fallenden Finanzminister Eberhard Danckelmann (1643–1722) nicht daran, eine durchaus zukunftsweisende Fiskal-Politik auszuprobieren. Seiner Meinung nach mussten die Lebensgrundlagen eines sich zum Staat des kleinen Mannes entwickelnden Gemeinwesens gesichert sein, damit der Staat von den Steuereinnahmen leben konnte. (3)
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Bildquelle 5: Gabriel de Riqueti Graf von Mirabeau |
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Eberhard von Danckelmann |
Auch gebärdete sich Preußen wegen seiner einseitig militärischen Orientierung keineswegs kriegerischer oder gar grausamer als seine Nachbarstaaten. Der Soldatenkönig beispielsweise hielt 50 000 Soldaten unter Waffen und scheute sich aber aus Kostengründen seine Armee mit Ausnahme des Feldzuges von 1717 gegen den Schwedenkönig Karl XII. in und um Stralsund einzusetzen. Selbst mit der Wegnahme des seit Jahrhunderten unter böhmischer Krone zu Österreich gehörenden Schlesiens in den drei schlesischen Kriegen zwischen 1740–1745 und 1756–1763 tat der später Friedrich der Große genannte Sohn des Soldatenkönigs nichts anderes als das, was Frankreich im Elsass, Schweden in Pommern, Bayern in der Pfalz und die Türkei auf dem Balkan mit nicht minder rabiaten Methoden praktizierten.
Nur die in seiner Kriegführung zutage tretende kurz entschlossene Angriffslustigkeit, seine in der Schlacht bei Kolin 1757 in dem Ausruf: „Racker wollt ihr denn ewig leben?“ (4) zum Ausdruck kommende skrupellose Rücksichtslosigkeit, sein zähes Ausharrungsvermögen, der mit dem völligen Untergang spielende Existenzkampf, sein Alles-auf-eine-Karte-Setzen begründete eine unselige Traditionslinie. Sie fand knapp zwei Jahrhunderte später einen alle mitmenschlichen Normen über Bord werfenden außerpreußischen Möchtegernnachahmer, der, unterstützt und an die Macht gehievt von Kapital- und Finanzmächtigen und einer preußisch-reaktionären Adelskamarilla, die Welt mit seinem an der friderizianischen Kriegführung angelehnten „Totalen Krieg“ am Ende ganz unpreußisch in eine bis dahin ungeahnte totale Katastrophe führen sollte.
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Bildquelle 7: Die Schlacht bei Kolin (Böhmen) am 18. Juni 1757 |
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Bildquelle 8:
Friedrich besucht überraschend Bauern beim Kartoffellesen |
Gänzlich unpreußisch deshalb, weil dieser Staat im Unterschied zum Dritten Reich Hitlers noch eine andere Traditionslinie verkörperte, die untrennbar mit dem Preußenkönig Friedrich II. verbunden bleibt. Dieser von den Berlinern auch schnippisch „Alter Fritz“ genannte König machte Preußen nicht nur zu einer europäischen Großmacht, sondern beförderte wie kein anderer absolutistischer Herrscher seiner Zeit den Toleranzgedanken als Duldung anderer religiöser Glaubensbekenntnisse.
So schrieb er in seinem politischen Testament schon im Jahre 1752: „Katholiken, Lutheraner, Reformierte, Juden und zahlreiche andere christliche Sekten wohnen in Preußen und leben friedlich beieinander. Wenn der Herrscher aus falschem Eifer auf den Einfall käme, eine dieser Religionen zu bevorzugen, so würden sich sofort Parteien bilden und heftige Dispute ausbrechen. Allmählich würden Verfolgungen beginnen und schließlich würden die Anhänger der verfolgten Religion ihr Vaterland verlassen. Tausende von Untertanen würden unsere Nachbarn mit ihrem Gewerbefleiß bereichern und deren Volkszahl vermehren.
Ich bin neutral zwischen Rom und Genf. Will Rom sich an Genf vergehen, so zieht es den Kürzeren. Will Genf Rom unterdrücken, so wird Genf verdammt. Auf diese Weise kann ich den religiösen Hass steuern, indem ich allen Parteien Mäßigung predige. Ich suche aber auch Einigkeit unter ihnen zu stiften, indem ich ihnen vorhalte, dass sie Mitbürger eines Staates sind und dass man einen Mann im roten Kleide genauso lieben kann wie einen, der ein graues Gewand trägt.“ (5)
Diese Sätze und die daraus resultierende Schlussfolgerung, wonach die Religionen toleriert werden müssen und „der Fiskal nur das Auge darauf haben muss, dass keine der anderen Abbruch tue, denn hier muss ein jeder nach seiner Fasson selig werden“ (6), lesen sich klugstaatsmännisch und scheinbar der Zeit weit vorauseilend. Sie wurzeln tatsächlich aber in der dynastischen Gebietserweiterungspolitik fast aller mitteleuropäischen Mächte seit der frühen Neuzeit.
So musste beispielsweise Kurfürst Johann Sigismund (1572–1619) im Jahre 1613 das calvinistische Glaubensbekenntnis annehmen, um die 1609 anfallenden Erbanwartschaften seiner Ehefrau Anna mütterlicherseits auf das anfänglich noch stark umstrittene Jülich, auf Cleve, Mark und Ravensburg im Westen des Reiches antreten zu können. Da aber bis dahin überall im zersplitterten Reich seit der Reformation von 1517 der Glaubenszwang „Cuius regio, eius religio“ (wessen Gebiet, dessen Religion) herrschte, sah sich der Kurfürst genötigt, für sein überwiegend von Lutheranern bewohntes Stammland Brandenburg ein Toleranzedikt zu erlassen, das er wie folgt begründete: „Auch wollen Seine Kurfürstlichen Gnaden zu diesem Bekenntnis keinen Untertanen öffentlich oder heimlich zwingen, sondern den Kurs und Lauf der Wahrheit Gott allein befehlen, weil es nicht an Rennen und Laufen, sondern an Gottes Erbarmen gelegen ist.“(7) Die Hohenzollern machten also aus der seinerzeit durchaus nicht unüblichen „Not“ des machtpolitischen Strebens nach Gebietserweiterung die Tugend, ihren mehrsprachigen und verschieden religiösen Untertanen einen daraus resultierenden toleranten Umgang miteinander anzuempfehlen.
Ähnlich widersprüchlich gestaltete sich die friderizianische Politik bezüglich der Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit im Innern. So griff der Preußenkönig Friedrich II. beispielsweise kraft seiner Wassersuppe als absolutistischer Herrscher zugunsten des Müllers Arnold in einen Prozess ein, nachdem der gegen den Müller klagende Erbzinsherr Graf Schmettau gleichsam als Gerichtsherr des Patrimonialgerichts zum eigenen Vorteil ein Urteil gegen den Müller fällte und die nächst höhere Instanz wiederum zugunsten des Klägers und Gerichtsherrn in einer Person entschieden hatte.
Als Reaktion auf ein daraufhin erfolgtes Bittgesuch des Müllers an den König schrieb Friedrich II.: „Wo die Justiz-Collegia nicht mit der Justiz ohne alles Ansehen der Person und des Standes gerade durch gehen, sondern die natürliche Billigkeit bei Seite setzen, so sollen sie es mit Sr.K.M. zu thun kriegen. Denn ein Justiz-Collegium, das Ungerechtigkeiten ausübt, ist gefährlicher und schlimmer, wie eine Diebesbande, vor die kann man sich schützen, aber vor Schelme, die den Mantel der Justiz gebrauchen, um ihre üblen Passiones auszuführen, vor die kann sich kein Mensch hüten. Die sind ärger, wie die größten Spitzbuben, die in der Welt sind, und meritiren eine doppelte Bestrafung.“ (8) Friedrichs machtpolitisch gegen den ständig widersetzlichen Adel gerichteter, durchaus die damals übliche Rechtspraxis über Bord werfender Eingriff in die sehr einseitige Patrimonialgerichtsbarkeit und der adlige Widerstand dagegen, veranlassten den selbstverständlich nur eingeschränkt aufgeklärten Monarchen immerhin, ein allgemeines Landrecht ausarbeiten zu lassen, das dann seinerseits allmählich die Herausbildung eines Rechtstaates mit der für eine moderne Gesellschaft so unerlässlichen, mindestens formalen Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit beförderte.
Trotz oder vielleicht doch auch ein bisschen wegen dieser stark interessengeleiteten Duldungspolitik und der Förderung von Rechtsstaatlichkeit konnte der große in Ostpreußen lebende und schaffende Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant im Jahre 1785 seinen mit Unbedingtheit gebietenden moralphilosophischen Grundsatz, den Kategorischen Imperativ, in die Welt setzen, wonach jeder so handeln müsse, dass er die Menschheit sowohl in der eigenen Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel braucht. Der Mensch erschien danach nicht mehr als Sache, sondern als Zweck an sich selbst. Er war danach selbstständig, gab sich seine Gesetze selbst, allerdings so, dass die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. (9)
Auf die Widersprüchlichkeit, diese Grundsätze unter der seinerzeitigen gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit Preußens schon praktisch leben zu können, weist sein Eingeständnis hin, „dass ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit dem Geist eines Volkes nicht vorteilhaft wäre, dass aber gerade unter dieser harten Hülle des preußischen Staates der Hang und Beruf zu freiem Denken sich allmählich herausbilde. Er wirkt zurück auf das Volk und dringt endlich sogar zu den Grundsätzen der Regierenden hinauf, bis diese verstehen, dass es am Ende sogar für sie selbst von Nutzen sein könnte, den Menschen nicht mehr als Maschine anzusehen, sondern seiner Würde gemäß zu behandeln.“ (10)
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Bildquelle 9:
Immanuel Kant, Radierung von Johann Leonhard Raab nach einem Original von Döbler (1791) |
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Bildquelle 10:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, porträtiert von Jakob Schlesinger, 1831 |
Der Kant nachfolgende preußische Staatsphilosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel kritisierte im Jahre 1820 in seinen berühmten Vorlesungen zur Rechtsphilosophie an der Berliner Universität nach dem Zusammenbruch des alten Preußen in den Jahren 1806/07 den „Kategorischen Imperativ“ als bloßes Sollen, dem etwas in der Wirklichkeit selbst entgegen kommen müsse. Nach ihm sollten sich zur Zusammenarbeit bereite Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Staat verbinden und dadurch eine substanzielle Sittlichkeit begründen. Das moralisch Gute lag danach nicht mehr im individuellen Gewissen begründet, sondern in der Pflicht, einem vernünftigen und damit nach sittlichen Normen begründeten Staatswesen zu gehorchen. Für einen solchen Staat, den Hegel im Preußen der Nachbefreiungskriegsära zu erkennen glaubte, bildete das subjektive Gewissen sogar einen gewissen Störfaktor. (11)
Dieses von Hegel idealisierte Preußen stand selbstverständlich im krassen Widerspruch zu den tatsächlich bedrückenden sozialen und politischen Verhältnissen der gleichsam polizeistaatlichen wie spießig biedermeierischen Restaurationszeit. Als der pietätische Friedrich Wilhelm IV. den preußischen Königsthron bestieg, verschwand der letzte, auch noch so weit hergeholte Grund für eine Idealisierung Preußens, wie man sie noch in den Preußischen Provinzblättern aus dem Jahre 1835 nachlesen konnte: „Wir haben in unserem Vaterlande eine Zeit erlebt, in welcher jene längst erkannte Wahrheit bis einem früher und anderwärts noch unerreichten Grade zur Wirklichkeit geworden, dass der Staat der beste sei, in welchem bei möglichster Schonung und Beförderung der Freiheit und des Wohlbefindens jedes Einzelnen doch das Ganze mit sicherer und kräftiger Hand gehalten und geleitet wird, so dass das Ganze nicht dem Einzelnen zur Beute werde, der einzelne aber auch nicht im Ganzen untersinken kann. Das ist kein Bauern-, kein Kaufmanns-, kein Adels-, aber auch kein militärischer Staat! Das ist der preußische Staat.“ (12)
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Bildquelle 11:
Barrikadenkämpfe in Berlin am 18.03.1848. Scheitern der Revolution von unten, Preußen in einem demokratisch verfassten mitteleuropäischen Staatenbund mit deutscher Amtssprache aufgehen zu lassen |
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Bildquelle 12:
Kaiserkrönung Wilhelms I. im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles am 18.01.1871. Bismarcks Revolution von oben lässt Kleindeutschland unter preußischer Führung zu einer Großmacht aufsteigen. |
Dieser König lehnte während der bürgerlich demokratischen Revolution von 1848/49 die ihm vom Paulskirchenparlament angebotene Kaiserkrone für ein Deutsches Reich, das in einem das Selbstbestimmungsrecht der Völker achtenden bundesstaatlich organisierten Mitteleuropa mit einheitlicher deutscher Amtssprache aufgehen sollte, ab. Er sprach verächtlich von einem „imaginären Reif aus Dreck und Lettern“. (13)
Preußen ging also nicht im Deutschen Reich und dieses in Europa auf, sondern das Deutsche Reich in Preußen, das unter Bismarck noch auf Ausgleich in Europa gesetzt hatte, danach aber durch eine aggressive außenpolitische Machterweiterungspolitik große Gefahren für eine gedeihliche europäische Entwicklung heraufbeschwor. Die Voraussetzungen für die spätere aggressive Außenpolitik schuf Bismarck durch eine rückschrittliche Ausgrenzungspolitik nach innen.
In diesem 1871 gegründeten Zweiten Deutschen Kaiserreich spürte jeder die Peitsche Bismarckscher Ausgrenzung, der nicht so recht hineinpasste. Das galt im Kulturkampf für die Katholiken, im „Berliner Antisemitismusstreit“ für die Juden und im Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital sowie gegen Aufrüstung und Krieg für die vaterlandslosen Gesellen, die Sozialdemokraten. Erst danach gab es das Zuckerbrot der Sozialgesetzgebung. Wo der Preußenkönig (Friedrich II. – der Verf.) unter teilweiser Anpassung an das Neue Altes konservieren wollte, vollendeten Großindustrielle und Junker unter Bismarck bei Wahrung des Alten, der feudal-reaktionären Überreste, die „Revolution von oben“ und begründeten den preußisch-deutschen Militärstaat. (14)
Ein solches, erst spät in der Mitte Europas mit Blut und Eisen zu einer Einheit zusammengeschmiedetes Deutschland fand der von Geltungssucht geplagte Kaiser Wilhelm II. vor; und dieser charakterliche Makel fiel zusammen mit den Streben deutscher Monopolkapitalisten, Finanzmagnaten und Großagrarier nach Vormachtstellung erst in Europa und dann in der Welt. Beides zusammen und noch einiges mehr führten in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts mit ihrer katastrophalen Niederlage und nach einem preußisch-sozialdemokratischen Zwischenspiel während der gesamten Weimarer Republik zum von Deutschland mitverursachten, in die ganze Welt getragenen bis dahin fürchterlichsten Massenmorden aller Zeiten.
Weil am Zustandekommen der Hitlerei neben den Herrschaftseliten aus Großindustrie und Großfinanz vor allem auch mindestens anfänglich die militärischen Eliten aus zumeist preußisch-ostelbischen Großagrarierkreisen Mitverantwortung trugen, kann die Auflösung des Staates Preußen nach dem völligen Zusammenbruch des Dritten Reiches durch die vier Siegermächte Anfang 1947 keinen ernsthaften Historiker wirklich verwundern. Preußen hinterließ der Nachwelt trotz seines kläglichen Endes das Gedenken an einige aktive, widerständige Hitlergegner, einen reichhaltigen gemeinschaftlichen Erfahrungsschatz und Kulturschätze unermesslichen Ausmaßes.
(1) Sebastian Haffner, Preußen ohne Legende, Hamburg 1998, S. 59
(2) Theodor Schieder Friedrich der Große, Ein Königtum der Widersprüche, Berlin 1983, S. 59
(3) Laurenz Demps, Der König und seine Beamten, in: Preußenjahrbuch. Ein Almanach, Berlin 2001 S. 83
(4) vgl. Christopher Duffy, Friedrich der Große. Ein Soldatenleben
(5) Friedrich der Große, Das politischen Testament, Reclam, Stuttgart 1987/2007, S.44/45
(6) Randbemerkungen Friedrichs des Großen, Bd. I, Potsdam 1937, S. 82
(7) Biblitheca Regia Monacensis, Karl Adolf Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen, Von der Reformation bis zur Bundes-Acte, Bd. 6, Breslau 1835, S. 86
(8) Auszug des Schreibens Sr. Königl. Majestät von Preussen Selbst gehaltenes Protokol über drey Kammergerichtsräthe aus Kistrin, den 11. Dezember 1779 Hans Dollinger, "Preussen, eine Kulturgeschichte", Südd. Verlag, München, 1980, S. 149
(9) Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke Bd. IV, Wiesbaden/Frankfurt a. M. 1956, S. 421.
(10) Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft 1784, S. 481-494. In: UTOPIE kreativ, H. 159 (Januar 2004), S. 10
(11) Preußenjahrbuch, Ein Almanach, Berlin 2001, S. 14
(12) Preußische Provinzialblätter oder Vaterländisches Archiv für Wissenschaft Bd. XIII, Königsberg 1835, S. 317
(13) Wolfgang Elz, "Ein imaginärer Reif, aus Dreck und Lettern gebacken". Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und die Revolution von 1848. In: Praxis Geschichte 10 (1996), H. 4, S. 30-34 [Themenheft: Vom Bund zum Reich]
(14) Ingrid Mittenzwei, Friedrich II. von Preußen, Berlin 1990, S. 228
Bildquelle 1: http://www.deutsche-und-polen.de/themen/thema_jsp/key=goldbulle_von_rimini.html vgl. auch: http://www.ggstanko.de/Geschichtliches/Prussen_u__Sudauer/GoldeneBulle/goldenebulle.html
Bildquelle 2: Urheber unbekannt / Lizenz eingeschränkt gemeinfrei http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/9/9b/Besiegter_Pru%C3%9Fe.jpg
Bildquelle 3: Preußen - Versuch einer Bilanz . Ausstellungskatalog in 5 Bänden hrsg. von Gottfried Korff (Berlin 1981), Bd. 1, S. 88. Urheber unbekannt / Lizenz CC-BY-SA 3.0 http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Sigismund_(Brandenburg)
Bildquelle 4: http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_I._(Preu%C3%9Fen)
Bildquelle 5:Urheber unbekannt / Lizenz CC-BY-SA 3.0 http://de.wikipedia.org/wiki/Gabriel_de_Riqueti,_comte_de_Mirabeau
Bildquelle 6 http://de.wikipedia.org/wiki/Eberhard_von_Danckelman / Urheber David Richter the elder / Lizenz CC-BY-SA 3.0
Bildquelle 7: Heeresgeschichtliches Museum Wien, Urheber August Querfurt (1696-1761) / Lizenz C http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_von_Kolin
Bildquelle 8: Bildquelle Deutsches Historisches Museum Lizenz CC_BY-SA 3.0 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9f/Der_K%C3%B6nig_%C3%BCberall2.JPG
Bildquelle 9: Radierung Johann Leonard Raab nach Original von Döbler / Lizenz CC-BY-SA 3.0 http://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Kant
Bildquelle 10 Bild Jakob Schlesinger / Lizenz CC-BY-SA 3.0 http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Wilhelm_Friedrich_Hegel
Bildquelle 11: Lizenz CC-BY-SA 3.9 http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Revolution_1848/49
Bildquelle 12: Bild: Anton von Werner / Lizenz CC-BY-SA 3.0 http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Wernerprokla.jpg&filetimestamp=20100626005515
Königreich Preußen um 1800 in seiner größten Ostausdehnung  Vgl.:
http://www.euratlas.net/history/europe/1800/de_index.html / mit freundlicher Genehmigung von Thomas Höckmann
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